“Warnung vor den Folgen eines Gas-Lieferstopps für Deutschland“ – ich kann es nicht mehr lesen. Natürlich hat ein Gas-Lieferstopp immense Folgen für die deutsche Wirtschaft und für deutsche Verbraucher. Aber wann begreifen wir eigentlich, dass es im Krieg in der Ukraine nicht nur um die Ukraine geht? Wann begreifen wir eigentlich, dass es um unsere westlichen Werte geht und ganz konkret um unsere freiheitlich-demokratische Rechtsordnungen in Europa? Nicht die NATO ist eine Bedrohung für Russland, sondern genau diese westlichen Werte sind eine Bedrohung für Putins Regime, und für die Regime von anderen autoritären bis diktatorischen Herrschern in Osteuropa. Diese Zielrichtung ist vielleicht – noch – nicht so evident, wie der Krieg in der Ukraine. Wer sich aber die Mühe macht anzuschauen, was Putin in Europa sonst noch tut und wo und wie er überall versucht, Einfluss zu nehmen (Marie Le Pen, Viktor Orban, Aleksandar Vucic, Milorad Dodik), der kann nicht anders, als Putins Feldzug als einen Feldzug gegen einen freiheitlichen und demokratischen Westen zu begreifen.

Wo bleibt also der Weckruf? Wo bleibt die Aufforderung, massiv Energie zu sparen? Es gibt so viel Einsparpotential, sei es im Verkehr, sei es im Beheizen von Büro- oder Wohnräumen. Aber anstelle die Mechanismen des Marktes wirken zu lassen und durch höhere Spritpreise zu einer Verringerung des Verbrauches beizutragen, denkt man darüber nach, wie man diese Preissteigerungen kompensieren kann. Viel besser wäre es doch, stärkere Anreize zum Energiesparen zu setzen. Beispiel: Für jede Kilowattstunde und für jeden Kubikmeter Gas, den Verbraucher in 2022 weniger verbrauchen als in 2021, erhalten sie einen Bonus. Vielleicht ist es nicht so einfach, wie im Beispiel, aber Möglichkeiten gibt es bestimmt. Und jedes Prozent, das wir einsparen, verringert unsere Abhängigkeit und verringert die Überweisungen nach Russland. Ja, das mag zu Opfern in der Bevölkerung führen, ja, das mag eine Weile unangenehm sein. Aber wenn klar kommuniziert werden würde, wofür wir das tun, dann wäre es nur noch halb so schlimm. Und für den Rest sollten die schrecklichen Bilder aus der Ukraine und unsere Solidarität mit den sich heldenhaft verteidigenden Ukrainern allemal reichen.

Muss wirklich noch mehr passieren, als in der Ukraine bereits passiert ist?

 

Dr. Julian Ries ist Senior Partner im Münchner Büro der ukrainischen Kanzlei Integrites.

 

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