Kommt ein EU-Embargo gegen russisches Erdöl? Oleg Ustenko, der Wirtschaftsberater des Präsidenten der Ukraine, fordert es seit Kriegsausbruch. Doch lange schien ein Ölembargo aus­geschlossen. Der Widerstand in Deutschland und anderen EU-Ländern schien unüber­wind­bar. Letzte Woche aber ist Deutschland von seiner Blockade-Haltung abgerückt. In einer be­mer­­kens­­werten Kehrtwendung kündigte die deutsche Regierung an, ein EU-Embargo gegen russi­sches Erdöl mittragen zu wollen. Dies hat Bewegung in die EU-interne Debatte gebracht, auch wenn einzelne Länder, namentlich Ungarn, an russi­schen Ölliefe­rungen weiterhin festhalten wol­len. Die nächsten Tage werden zeigen, ob die EU-Staaten sich zu einem gemeinsamen Vorgehen durchringen können. Gestern haben die Staats- und Regierungschefs der G7 an einer Videokonferenz beschlossen, gemeinsam aus russischem Erdöl auszusteigen. Damit ist die Rich­tung vorgegeben.

Dass ein Umdenken sich abzuzeichnen beginnt, ist zu begrüssen. Bisher bleiben die konkreten Embargo­vorschläge in der EU allerdings auf halbem Weg stehen. Betont wird zwar unablässig, es werde sich um ein «vollständiges Embargo» handeln. Aber greifen soll es nicht unmittelbar, sondern für Rohöl erst in sechs Monaten und für Raffi­nerie­produkte erst in acht Monaten (mit zusätzlichen Sonderfristen für Ungarn, Tschechien, die Slowa­kei und Bulgarien). Die Hoffnung ist, dass die – je nach Lesart – schrittweise oder zögerliche Umstellung für die eigene Wirtschaft leichter zu verschmerzen sein wird. Das mag zutreffen. Die Kehrseite ist indes, dass Öl­milliar­den aus Europa noch monatelang in die russische Kriegskasse fliessen werden.

Damit erhält das russische Regime den finanziellen Atem, um seinen Krieg in die Länge zu ziehen und womöglich weiter zu eskalieren. Überdies gewährt Europa Russland hinreichend Zeit, sich alternative Absatzkanäle zu sichern, zum Beispiel in Indien. Die Wirkung des «voll­ständigen Embargos» wird deshalb begrenzt bleiben. In der vorgesehenen Form dient uns das Embargo in erster Linie zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Hingegen beschneidet es kaum die Fähigkeit des russi­schen Regimes, seine aggressive Expansions- und Unterdrückungspolitik fortzusetzen – oder gar zu intensivieren. Ein wirklich wirksames Embargo müsste zudem neben russischem Erdöl auch russisches Erdgas erfassen. Ein Gasembargo steht aber in der EU nach wie vor nicht konkret zur Diskussion. Dafür scheint insbesondere in Deutschland die Angst vor schmerz­haften Versor­gungs­engpässen weiterhin zu gross zu sein.

Die Ölembargo-Debatte zeigt einmal mehr, dass die EU vor allem mit sich selbst be­schäftigt ist. Diskutiert wird endlos, welche Sanktionen für die eigene Wirtschaft noch am ehesten ver­schmerzbar sind. Obwohl es eigentlich in erster Linie darum gehen muss, die Finanzquellen des Aggressors zu kappen. Darauf kommt es an. Es ist kurzsichtig, dies in den Hintergrund geraten zu lassen. Versor­gungs­lücken und Preissteigerungen bei Öl und Gas haben zweifellos das Poten­tial, zu wirtschaftlichen Verwerfungen zu führen. Doch das sind vorüber­gehende Prob­leme, die zumindest mittelfristig lösbar sind. Eine ganz andere Tragweite hat hingegen, was auf dem Spiel steht, wenn es nicht gelingt, den Aggressor in die Schranken zu weisen. «Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts» (Willy Brandt).

Je länger der Krieg in der Ukraine andauert und sich zu einem Flächenbrand aus­zuweiten droht, desto stärker zerrüttet er Europas Friedensordnung – und umso höher werden auch die wirt­schaftlichen Schäden, die er Tag für Tag in der Ukraine, in Europa und in anderen Teilen der Welt anrichtet. Die beste Chance, der russischen Aggression ein Ende zu setzen, bietet ein um­fas­sendes und unmittelbar greifendes Öl- und Gasembargo. Stattdessen weiterhin den Aggres­sor zu finanzieren, ist brandgefährlich – und könnte uns auf längere Sicht sehr teuer zu stehen kom­men.

Seit Kriegsbeginn hat Europa für Öl-, Gas- und Kohlekäufe rund 58 Milliarden Euro nach Russ­land überwiesen. Wenn die Ölimporte noch sechs bis acht Monate weitergehen, während über eine Beendigung der Gasimporte gar nicht erst gesprochen wird, werden diese Zahlungen sich bis zum Jahresende auf weit über 200 Milliarden summieren. Dem gilt es einen Riegel zu schie­ben. Stop financing the aggressor!

Rainer Wedde, Roman Probst, Peter Münch

 

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