Über seine Gas-, Öl- und Kohlekäufe hat Westeuropa jahrelang Russlands militärische Aufrüstung in massivem Umfang mitfinanziert. Spätestens mit dem Überfall der hochgerüsteten russischen Armee auf die Ukraine hat sich gezeigt, dass dies rückblickend ein gravierender Fehler war. Im Rückblick grund­legend falsch war auch, sich für die Energieversorgung Schritt für Schritt in eine zunehmende Abhängig­keit von Russland zu begeben, unbekümmert um die rücksichtslose Machtpolitik und den unaufhör­lichen Aufbau der Militärmacht, die der Kreml nicht erst seit gestern betreibt. Lieber von günstigen Energiepreisen zu profitieren, statt sicherheitsrelevanten Abhängigkeiten vorzubeugen und sich ab­zeich­nende militärischer Bedrohungen einzudämmen, war rückblickend verhängnisvoll. Diese Fehler historischen Ausmasses gilt es zu korrigieren – ohne weiteres Zögern und Zuwarten.

Der Einwand, es gebe derzeit keine Alternativen zur Weiterführung der Energieimporte aus Russland, ist eine Ausrede. Alternativen gibt es immer, die Frage ist nur, zu welchem Preis. Konkret fragt sich, zu welchen Konditionen alternative Energieträger verfügbar sind, welche volkswirtschaftlichen Kosten die zu erwartenden Lieferengpässe und die damit verbundenen Rationierungen verursachen und was die nötigen Massnahmen zur sozialen Abfederung kosten. Wie hoch die Gesamtrechnung zu veranschlagen ist, wird unter Ökonomen kontrovers diskutiert. Unabhängig davon gilt es jedoch festzuhalten: Wenn der Ausstieg aus russischem Gas, russischem Erdöl und russischer Kohle heute teuer (oder sogar sehr teuer) wird, so ist dies nichts anderes als die logische und erwartbare Folge einer Energieabhängigkeit, zu der es nie hätte kommen dürfen. Wir haben uns die heutige Zwangslage selbst zuzu­schreiben.

Wenn der Ausstieg aus russischem Gas, russischem Erdöl und russischer Kohle heute teuer wird, so ist dies nichts anderes als die logische und erwartbare Folge einer Energieabhängigkeit, zu der es nie hätte kommen dürfen.

Eine Ausrede ist auch der Einwand, die russischen Waffen, die heute in der Ukraine zum Einsatz kommen, seien längst finanziert (mit Energieeinnahmen aus vergangenen Jahren), weshalb ein europäischer Energieimportstopp zum jetzi­gen Zeitpunkt den Kriegsverlauf gar nicht mehr wesentlich beeinflussen könne. Diese – reichlich zynische – Sichtweise ist schon im Ansatz verfehlt. Sie blendet aus, dass wir Westeuropäer heute, nachdem wir jahrelang von preisgünstigen Energieimporten profitiert und damit in fahrlässiger Weise die russische Aufrüstung mitfinanziert haben, unsere Hände nicht einfach in Unschuld waschen können. Unter den Folgen der gravierenden Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte leiden heute die Menschen in der Ukraine. Vor diesem Hintergrund trifft Westeuropa eine besondere Verantwortung, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um den Aggressor in die Schranken zu weisen.

Die Energiewirtschaft ist die finanzielle Lebensader des russischen Regimes.

Dass ein Importstopp für Gas, Öl und Kohle aus Russland dafür ein probates Mittel ist, steht ausser Frage. Die Energiewirtschaft ist die finanzielle Lebensader des russischen Regimes. Mit den Einnahmen aus dem Energie­geschäft finanziert das Regime den umfassen­den Propaganda­apparat, der die Medien (und insbesondere auch die Bericht­erstattung über die laufende «militärische Spezial­­operation») gleichschaltet, bezahlt die allgegen­wärti­gen Sicherheitsdienste, die jeden Widerspruch (auch jenen gegen den Krieg) unterdrücken, und subventioniert die Unter­neh­men, die für den Machterhalt (und die Kriegsführung) entscheidend sind. Solange die Energie­einnahmen sprudeln, wird das Regime auch in der Lage sein, laufend neue Söldnertruppen anzuheuern und in den Kampf zu werfen – so dass an die Stelle von Armeeeinheiten, welche die Ukrainer in opferreichem Abwehrkampf aufreiben, gleich wieder neue treten. Und der Strom des Munitions­nach­schubs wird trotz der Unmengen an verschossenen Grana­ten und abgefeuerten Raketen nicht abreissen.

Statt davor zu zittern, dass der Kremlherr am Gashahn schrauben könnte, ist diesem endlich der Geldhahn zuzudrehen.

Es ist klar, dass die Finanzierung des Aggressors aufhören muss. Die europäische Energieabhängigkeit von Russland ist übrigens auch nur die eine Seite der Medaille. Die Abhängigkeit des russischen Regimes von den Energieeinnahmen aus Westeuropa ist ungleich grösser. Während die Energie­wirtschaft für das russische Regime von existen­zieller Bedeutung ist, steht Westeuropa lediglich vor der Herausforderung einer schmerzhaften, aber unver­meidbaren energiepolitischen Neuaus­rich­tung. Was der Kreml allerdings bisher wesent­l­ich besser beherrscht als wir Europäer, ist die Taktik der Einschüchterung. Das muss sich ändern. Statt davor zu zittern, dass der Kremlherr am Gashahn schrauben könnte, ist diesem endlich der Geld­hahn zuzudrehen. Es gibt keinen zureichenden Grund, dieses Machtmittel nicht einzusetzen.

Weiteres Zögern und Zuwarten ist unverantwortlich. Es läuft darauf hinaus, die Folgen historischer Fehlentwicklungen in der westeuropäischen Politik von den Menschen in der Ukraine alleine tragen zu lassen, statt jetzt die eigene Verantwortung für die nötige Kurskorrektur wahrzunehmen. Auf diese Weise werden die gemachten (und weitherum eigentlich auch erkannten) Fehler nicht nur nicht korrigiert, sondern vielmehr unvermindert fortgesetzt – nur weil der Verzicht auf billiges Erdgas aus Russland schwerfällt und Einbussen am eigenen Wohlstand bedeuten könnte. Wir sind im Begriff, den monumentalen Fehlern der vergangenen Jahrzehnte einen neuen Fehler historischen Ausmasses hinzu­zufügen.

Die vom Westen und seinen Verbündeten gemeinsam ergriffenen Wirtschaftssanktionen sind wichtig, aber solange die zentrale Finanzierungsquelle, von der das russische Regime abhängt, ausgeklammert bleibt, genügen sie offensichtlich nicht. Wegen der Zauderei in Europa bleibt das westliche Sanktions­regime eine halbe Massnahme, die den Kreml allem Anschein nach weitgehend unbeeindruckt lässt. So nehmen wir unsere historische Verantwortung nicht wahr. Wir brauchen nicht bloss halbherzige, sondern ganze Massnahmen. Das Geschwätz von der «Zeitenwende» nützt wenig, wenn der Wille zu Tat fehlt.

Was Not tut, ist ent­schlossenes Handeln.

Was Not tut, ist entschlossenes Handeln. Es geht darum, dem Aggres­sor die Stirn zu bieten und damit aufzuhören, ihm täglich mit Hunder­ten Millionen Euro finanziell unter die Arme zu greifen – und zwar von einem Tag auf den andern, wie der Kreml die Ukraine von einem Tag auf den andern überfallen hat.

Peter Münch, Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, lehrt und forscht an der ZHAW School of Management and Law, Winter­thur/Schweiz, in den Bereichen Wirtschaftsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung.

peter.muench@STOPfinancingtheaggressor.org

 

DOWNLOAD