„Vielleicht ein Ölembargo, wenn’s denn unbedingt sein muss, aber bitte bloss kein Gas­embargo“ – das scheint eine verbreitete Meinung zu sein. Über ein Ölembargo diskutiert die EU inzwischen konkret, wenn auch mühevoll und mit ungewissem Ausgang.

Gegen einen raschen Ausstieg aus russi­schem Erdgas hat sich hingegen vor allem in Deutschland eine Abwehrfront gebildet.

Gasembargo gegen Russland, ja oder nein – was ist riskanter?

Während die Debatte um ein EU-Ölembargo gegen Russland sich in die Länge zieht, macht der Widerstand gegen ein Gasembargo in den letzten Tagen erneut Schlagzeilen.

Auslöser ist eine neue Studie von Tom Krebs, worin der Wirtschaftsprofessor aus der Universität Mannheim die Folgen eines abrupten Gasembargos deutlich drastischer darstellt als andere Volkswirtschafts-Expertinnen und -Experten.

Frühere Studien rechnen bei einer sofortigen Beendigung aller russischen Öl- und Gasliefe­run­gen mit einem empfindlichen, aber insgesamt handhabbaren Wirtschaftseinbruch.

Das ist der Tenor bei Bachmann et al., beim DIW, bei der Leopoldina und bei der Deutschen Bundes­bank. Krebs prognostiziert in seiner neuen Studie zwar im besten Fall auch „nur“ eine spürbare Rezes­sion.

Im schlimmsten Fall befürchtet er jedoch eine Wirtschaftskrise, „wie sie (West)Deutsch­land seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat“.

Je nach Szenario würden Versorgungs­engpässe und höheren Energiepreise die deutsche Wirtschaftsleistung um zwischen 3,2 und 12 Prozent einbrechen lassen.

Die Pressemitteilung zur Studie warnt, ein abruptes Ende der Gas­liefe­run­gen aus Russland sei „aktuell volkswirtschaftlich hoch riskant“.

Um die Frage, wie ein Lieferstopp russischen Gases sich auf die deutsche Wirtschaft auswirken würde, dreht sich „vermutlich der prominenteste und relevanteste Gelehrtenstreit nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine“ – so ein Hintergrundbericht im Tagesspiegel Background.

Der Bericht zitiert die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm mit der Aussage, die neue Studie bestätige „noch einmal die hohe Abhängigkeit von russischem Gas sowie die hohe Unsicherheit über die Auswirkungen eines Lieferstopps“.

Laut Grimm dürfte allerdings in Deutschland „die Möglichkeit, flexibel auf Knappheiten zu reagieren, grösser sein, möglicherweise deutlich grösser“, als in der Studie gestützt auf einen Vergleich mit der anders gearteten Fukushima-Katastrophe in Japan angenommen.

Es ist das Verdienst der neuen Studie aus Mannheim, die Risiken herauszustreichen, die im Worst-Case-Szenario möglicherweise eintreten.

Besonders gross werden diese Risiken, falls es nicht gelingen sollte, auf Verknappungen infolge ausfallender Gaslieferungen aus Russland flexibel und sachgerecht zu reagieren.

Dabei ist zu beachten, dass – wie die Studie ausführt – ein russi­scher Lieferstopp „entweder die Folge eines Importembargos der Europäischen Union oder einer Entscheidung Russlands (Exportembargo)“ sein kann.

So oder anders müssen Deutsch­­land und Europa sich also auf einen Lieferstopp einstellen und vorbereiten. Die Frage, wie mit den entsprechenden Risiken umzugehen ist, nimmt Krebs in seiner Studie allerdings nicht in den Fokus.

Explizit ausgeklammert bleibt auch der wirtschaftliche und politische Nutzen eines Erdgas­embargos.

Die Studie fokussiert ausschliesslich auf die Kosten und die Risiken. Zur Nutzen­analyse wird festgehalten, sie würde „den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen“ und werde „daher nicht durchgeführt“.

Eine solche Eingrenzung ist in einer wissenschaftlichen Studie legitim.

In der politischen Entscheidfindung sieht es hingegen anders aus. Hier verbietet sich die Ver­engung des Blickfelds auf einzelne Auswirkungen einer bestimmten Handlungsoption.

Gerade daran krankt allerdings vielerorts in Europa die politische Diskussion um ein Gasembargo gegen Russland: Der Blick bleibt fast ausschliesslich auf die unmittelbaren Kosten und Risiken für die eigene Wirtschaft fixiert.

Kaum vertieft analysiert und diskutiert wird dagegen, was sich mit einem Importstopp für russi­sches Erdgas politisch und wirtschaftlich erreichen lässt.

Die besten Kenner Russlands halten ein vollständiges Öl- und Gasembargo für „sehr wirksam“ (Andrei Illiarionov). Denn es würde „genau ins Herz der russi­schen Macht“ treffen (Janis Kluge).

Es wäre „unbequem für Europa – aber verheerend für Russland“ (Nigel Gould-Davies). Und es würde „Putin die finanziellen Mittel zur Fortsetzung des Krieges entziehen und ihn innenpolitisch massiv schwächen“ (Sergej Gurijew und Oleg Itskhoki).

Auch die Kosten- und Risikosicht bleibt meist einseitig. Alles dreht sich darum, was uns ein Gasembargo kosten würde und wie riskant es für unsere Wirtschaft wäre.

Weitgehend aus­ge­blendet werden dagegen die Risiken und die Kosten, die wir uns einhandeln, wenn wir die Gasimporte aus Russland weiterführen.

Mit dem jahrelangen Einkauf fossiler Energieträger hat Europa dem russischen Regime den finanziellen Spielraum für Aufrüstung und militärische Expansion verschafft.

Wie brandgefährlich dies war, wissen wir heute.

Damit fortzufahren, ist ein Spiel mit dem Feuer. Dank seines Angriffskriegs profitiert das russi­sche Regime von massiv gestiegenen Öl- und Gaspreisen. Statt sich zu leeren, füllt sich die russische Kriegskasse weiter.

Damit stellen wir sicher, dass der Kreml nicht nur machtpolitisch, sondern auch finanziell daran interessiert sein muss, den Krieg zu verlängern.

Auch ohne entscheidenden russischen Durchbruch auf den ukrainischen Schlachtfeldern ver­ursacht ein langer Abnützungskrieg täglich massive menschliche Verluste und wirtschaftliche Schäden.

Tag für Tag werden Zivilisten bombardiert, unterdrückt, verschleppt, in die Flucht getrieben, gefoltert, vergewaltigt, verkrüppelt, ermordet.

Infrastruktur und Produktionsanlagen werden zerstört. Lieferketten, von denen auch westliche Firmen abhängen, werden unter­brochen. Maschi­nen und Erzeugnisse werden in grossem Stil abtransportiert und gestohlen.

Handels­wege bleiben blockiert. Infolge ausfallender Getreidelieferungen droht eine globale Ernäh­rungs­krise. Und nicht zuletzt besteht die Gefahr, dass der Krieg eskaliert, ausser Kontrolle gerät und auf weitere Länder übergreift, mit wirtschaftlichen Folgekosten, die noch­mals neue Dimensionen erreichen.

Zurück zu Tom Krebs: Für sich allein betrachtet, lässt sich ein unmittelbares Ende von Gas­importen aus Russland wahrscheinlich durchaus als für die deutsche Wirtschaft „hoch riskant“ bezeichnen.

Der Anpassungsschock wird knallhart sein. Wenn das Krisenmanagement versagt, können die volkswirtschaftlichen Kosten sich auf­summieren (wobei das BIP-Minus von 12 Prozent, mit dem die Studie im ungünstigsten Fall rechnet, allerdings immer noch deutlich hinter dem Wirtschaftseinbruch von 21 Prozent zurückbleibt, den Grie­chen­land im Zuge der Eurokrise durchgemacht hat).

Falls das Schreckensszenario eintritt, das Krebs an die Wand malt, werden Deutschland und wahrscheinlich weitere europäische Länder tatsächlich die schlimmste Wirt­schaftskrise seit 1945 erleben – passend zur schwersten sicherheits­poli­ti­schen Krise, mit der Europa seit dem Zweiten Welt­krieg aktuell konfrontiert ist.

Die Risiken sind nicht zu unterschätzen.

Genau betrachtet, geht es hier allerdings nicht um neue Gefahren. Die eigentliche Gefahrenquelle ist nicht das zur Diskussion stehende Gas­embargo.

Hoch riskant war es vielmehr, sich über Jahre hinweg von billigen Gaspreisen ver­führen zu lassen und sich trotz aller Warnzeichen in eine immer stärkere Abhängigkeit von Russ­land hineinzu­manöv­rieren.

Diese Hochrisiko-Strategie ist nicht aufgegangen. Die jahrelange Sorglosigkeit rächt sich jetzt. Über Deutsch­land und anderen Ländern in Europa schwebt andauernd das Damokles­schwert eines plötzlichen russischen Liefer­stopps.

Das ist ein Zustand, der einer freien Nation unwürdig ist und der, solange er fortbesteht, volkswirt­schaft­lich und sicherheits­politisch hoch riskant bleibt, zumal bekannt ist, dass das russische Regime bereit ist, Gas jederzeit als Druck­mittel einzu­setzen.

Darüber hinaus ist der aktuelle Zustand ethisch uner­träg­lich. Er zwingt Europa faktisch zur Komplizenschaft mit dem Aggressor. Ein Gasembargo bietet die Chance zu einem Befreiungs­schlag.

Peter Münch

 

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