Es ist zentral, die Finanzströme effektiv einzuschränken, die dem russischen Staat helfen, in der Ukraine seine Killermaschinerie weiterhin mit geballter Wucht alles Lebendige niederwalzen zu lassen. Zugleich geht es um weitaus mehr. Es geht um Bewusstsein, Erinnerungsvermögen, Weitblick, Mut – und darum, was uns wirklich wichtig ist.

Wir müssen endlich aufwachen und zu Bewusstsein kommen. Es gilt, die Situation zu sehen, wie sie ist, und dem Aggressor entschieden entgegenzutreten. Aber der Bundesrat, die Schweizer Regierung, druckst feige herum. Man wagt es nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Die putinsche Terminologie der «militärischen Operation» ist dem Bundesrat offenbar sympathischer als die wahrheitsgetreue Bezeichnung der Kriegsverbrechen, der Massaker an der Zivilbevölkerung, des Massenmordes. Präsident Joe Biden ist unserem Bundesrat meilenweit voraus. Er nennt zu Recht die Dinge unverschleiert und ungeschönt; er bezeichnet Putin als genau das, was dieser ist: als mörderischen Diktator und als Kriegsverbrecher. Putin ist ein eiskalter Killer, der seine Mörderbanden – seien dies die hirngewaschenen eigenen Soldaten, die an Brutalität nicht zu überbietenden Schlächter aus Tschetschenien oder die berüchtigte Wagner-Truppe – in vollem Bewusstsein dessen, was sie anrichten werden, mit vollem Vorsatz auf Zerstörung abrichtet. Unsere Spitzenpolitiker aber sprechen respektvoll vom russischen «Präsidenten» und unser Aussenminister mahnt dazu, einen kühlen Kopf zu behalten und sachliche Diplomatie zu pflegen. Er leiert vom Rechtsstaat und von der Notwendigkeit, die rechtsstaatlichen Grundsätze auch auf dem diplomatischen Parkett nach wie vor hochzuhalten.

Der Rechtsstaat, der auf feiner Austarierung der Interessen beruht, auf Ausgewogenheit, auf gegenseitiger Kontrolle der Gewalten, Verhältnismässigkeit und fortwährender Konsensfindung, ist mir als Jurist heilig. Doch in der Konfrontation mit den brutalsten Diktatoren dieser Welt hilft die Berufung auf rechtsstaatliche Prinzipien nicht weiter. Putin führt den Westen äusserst erfolgreich an der Nase herum. Er verachtet den Westen als dekadent – notabene nicht zuletzt wegen dessen Milde und Weichheit und gerade wegen all den rechtsstaatlichen Prinzipien, die wir schätzen, hochhalten und verteidigen, die uns aber wenig effiziente Handhabe bieten, brachialer und plötzlich auftretender Gewalt wirkungsvoll zu begegnen. Putin spuckt auf Rechtsstaatlichkeit. Putin spuckt auf Menschenrechte, Konsensfindung und die Mitsprache von Minderheiten. Er lässt seine Widersacher vergiften, selbst denjenigen, der in Great Britain nichtsahnend auf einer Parkbank sitzt. Wird er ihrer habhaft, so steckt er sie ins Lager. Der Kreml führt uns sein Verständnis von Menschenwürde etc. seit Jahrzenten plastisch vor Augen, doch wir stellen uns blind.

Gebracht hat all die Diplomatie – was nun? Einen Scherbenhaufen, zerbombte zivile Einrichtungen und Tausende von unschuldigen Toten.

Der Westen versucht zu verhandeln, zu überzeugen, zum Einlenken zu bewegen. Gebracht hat all die Diplomatie – was nun? Einen Scherbenhaufen, zerbombte zivile Einrichtungen und Tausende von unschuldigen Toten. Der Westen hat nicht begriffen, dass sich die sowjetischen – heute russischen – Überfälle auf souveräne Staaten immer wiederholen werden. Ex-US-Präsident Obama hat zwar Russland seinerzeit herablassend als «Regionalmacht» bezeichnet. Doch auch eine Regionalmacht kann für ihre Nachbarn eine ernsthafte Gefahr darstellen – vor allem, wenn ihr Führer sich nach alter Grösse zurücksehnt und sich ansetzt, das verlorene Grossreich wiederherzustellen. Man war grenzenlos naiv und glaubte, Invasionen wären in der politischen Kultur des 21. Jahrhunderts nicht mehr denkbar. Georgien? Das war einmal. Krim? Längst vergessen. Und dann zieht einer an der Grenze zur Ukraine sein Riesenheer zusammen und behauptet, er führe nichts Böses im Schilde. Gewiss, er führt seine Soldaten lediglich etwas Gassi. Und sie beissen ja nicht, sie wollen nur spielen. Man glaubt ihm, weil man ihm gerne glauben will. Ein Bewusstseinswandel ist dringend nötig, gerade auch in der Schweiz. Wir müssen den unschönen Realitäten in die Augen sehen. Es ist fünf vor zwölf.

Die russische Führung versteht die Sprache der Diplomatie nicht.

Die russische Führung versteht die Sprache der Diplomatie nicht. Sie verspottet unsere Werte. Sie lacht sich ins Fäustchen, wenn die naive Schweiz meint, man müsse weiterhin und allen Ernstes mit Rechtsstaatlichkeit vorfahren, wenn es um die Kontaktpflege zu einem der schlimmsten Verbrecher des 21. Jahrhunderts und seinen Schergen geht. Der Kreml lacht sich ins Fäustchen, wenn man in Bern willfährig, folgsam und im Lichte des Knigge aus Moskau, von «militärischer Operation» redet. Offensichtlich ist Putin, wie unser geschätzter Stratege Ueli Maurer lobt, ein sehr guter Stratege – denn es macht den Anschein, im Verhältnis zur braven Schweiz sei seine Strategie bestens aufgegangen.

Wir brauchen mehr Mut. Eine etwas ehrlichere Terminologie auf offizieller Ebene à la Biden würde uns richtig guttun. Und wir sollten uns selbst darüber reinen Wein einschenken, wie wichtig uns Freiheit, Demokratie und ein freies Europa wirklich sind. Oder ist uns das Geld etwa doch noch «es bitzeli» wichtiger? Sind uns die Hunderte von Rohstoff- und Energie-Handelsfirmen, die meisten rund um den schönen Zugersee geschart, etwa nicht doch noch ein klitzekleines Bisschen wichtiger? Ist uns das Geld, das vordergründig rund und sauber ist, aus all den Firmen, die täglich Hunderte von Millionen Dollars in Putins Kassen spülen, nicht vielleicht doch noch «es bitzeli» wichtiger als unser unehrliches Gelaber von Freiheit, Souveränität und Rechtsstaatlichkeit? Und wie wichtig sind uns eigentlich die Frauen und Männer, die in der nicht unmittelbar benachbarten Ukraine abgeschlachtet werden, die Kinder, die dort ihre Eltern verlieren, die zahllosen Zivilisten, die von Putins Mörderbanden in Kellern gefoltert und bei Massenhinrichtungen exekutiert werden? Die unheiligen wirtschaftlichen Verquickungen sind kein Segen und schon gar keine Zierde für unser Land.

Wir haben lange weggeschaut. Wir haben uns während Jahrzehnten immer stärker von russischer Energie abhängig gemacht. Diese Politik erweist sich als folgenschwerer Trugschluss. Wir alle, Europa, die Ukraine und die Welt, zahlen nun den Preis dafür. Wir waren grenzenlos naiv, während der «exzellente Stratege» in Moskau seine mörderische Streitmacht in Stellung gebracht und auch immer wieder eingesetzt hat. Und das Muster war immer dasselbe – man erinnere sich an die Annexion der Krim: Es gab einen kurzen Aufschrei, pro forma, doch nichts Ernsthaftes, man sprach wieder einmal offiziell, aber habherzig, von einem völkerrechtswidrigen Akt. Halb so wild. Dann ging man zur Tagesordnung über, profitierte weiter von den funktionierenden Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau und übte sich – um nochmals unseren Aussenminister zu zitieren – in Rechtsstaatlichkeit und Diplomatie.

Was jetzt geschieht, darf nicht vergessen werden. Das schulden wir den Opfern.

Zu unserer Naivität gesellte sich unsere verhängnisvolle Vergesslichkeit. Auch das muss sich ändern. Wir dürfen nicht vergessen. Schon werden wieder erste Stimmen hörbar, man sollte, wenn vielleicht noch nicht gerade heute, so doch mittelfristig, daran denken, die Beziehungen zu Russland wieder zu normalisieren. Es ist aber ein Irrtum zu meinen, es sei doch alles halb so wild und werde schon bald vorübergehen. Die Verlockung ist gross, angesichts der eigenen (indessen: unvergleichlich geringfügigen) Probleme wirtschaftlicher Art wie der steigenden Energiepreise, der in Europa herrschenden Inflation etc., die Bereitschaft zu signalisieren, zum Normalbetrieb zurückzukehren und zu vergessen. Was jetzt geschieht, darf nicht vergessen werden. Das schulden wir den Opfern.

Die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti sprach der Ukraine kürzlich jegliches Existenzrecht ab. Kurz darauf legte Dimitri Medwedew nach – noch schärfer. Da liest man, was hierzulande kein halbwegs informierter und menschlicher, also empathischer, Mensch für ernsthaft möglich hielte – so absurd klingt das:

Der Titel des Artikels lautet: «Was soll mit der Ukraine passieren?» Gemäss dem Propaganda-Artikel verdienen die Streitkräfte der Ukraine den Tod. Aber nicht nur sie müssten bestraft werden. «Höchstwahrscheinlich» sei «eine Mehrheit» der Bevölkerung zu den Nazis übergelaufen: «Nazis, die zu den Waffen gegriffen haben, müssen so zahlreich wie möglich getötet werden … Nicht nur die Eliten, die meisten Menschen sind schuldig, sie sind passive Nazis, Nazi-Ermöglicher. Sie haben diese Eliten unterstützt und müssen bestraft werden.»
Die ukrainische Kultur soll so weitestgehend ausgelöscht werden. Die Bevölkerung müsse umerzogen werden, heisst es im Artikel:
«Die weitere Denazifizierung der Masse der Bevölkerung soll durch ideologische Unterdrückung des nationalsozialistischen Gedankenguts und durch strenge Zensur erreicht werden: nicht nur in der Politik, sondern auch in den Bereichen Kultur und Bildung.»
Einen Kompromiss soll es nicht geben. Die Ukraine soll gemäss dem Artikel unter Kontrolle Russlands stehen, da der Westen der Verursacher des «Nazismus» sei:
«Daher kann eine Entnazifizierung nicht in einem Kompromiss durchgeführt werden, auf der Grundlage einer Formel wie ‹NATO – nein, EU – ja›. Der kollektive Westen selbst ist der Gestalter, die Quelle und der Förderer des ukrainischen Nazismus»
Der Ukraine wird jegliches Existenzrecht abgesprochen:
«Die Geschichte hat es bewiesen: Die Ukraine darf nicht als Nationalstaat existieren. Jeder Versuch, den Staat zu schaffen, führt zum Nazismus. Der Ukrainismus ist ein künstliches antirussisches Konstrukt … Die Entnazifizierung der Ukraine muss die Ent-Europäisierung der Ukraine sein.»

Der Originalton aus Russland sollte allen, die ernsthaft der Illusion erlegen sind, dem Diktator im Kreml und seinen Mördergesellen könne man mit Diplomatie und Rechtsstaatlichkeit die Stirn bieten, eine eindringliche Warnung sein. Die brachiale Mentalität der russischen Führung sollte endlich allen klarmachen, dass es nie um – wie der Kreml aber immer standhaft vorgelogen hatte – die Verteidigung Russlands, nie um «berechtigte Sicherheitserwartungen» Russlands, nie um eine lediglich kleinräumig angesetzte «Befreiungsaktion» gegangen war. Es geht um viel mehr. Je weicher sich Europa verhalten wird, umso mehr wird der Bluthund Blut lecken, umso stärker wird sein Appetit auf mehr. Die diplomatische Schiene ist für Putin und seine Machtelite quasi ein Freipass, sich mit Gewalt zu nehmen, was man nehmen will. Schon deshalb sollten wir im ureigenen Interesse volle wirtschaftliche Härte walten lassen. Wir sind alle aufgerufen, die Dinge beim Namen zu nennen und den Realitäten in die Augen zu sehen. Wir sind aufgerufen, uns im Bewusstsein, dass Konsumgüter für uns mittelfristig teurer werden können, wirklich harten und schmerzhaften Sanktionen zum Nachteil des Barbarenregimes im Nordosten anzuschliessen. Wir sind aufgerufen, die Profiteure, die rund um den schönen Zugersee residieren, ausfindig zu machen und als solche anzuprangern.

Je weicher sich Europa verhalten wird, umso mehr wird der Bluthund Blut lecken, umso stärker wird sein Appetit auf mehr.

Andernfalls steht zu befürchten, dass es nicht bei der Ukraine «bleibt». Medwedew sagt es deutlich in seinem Pamphlet: Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Ukraine «das gleiche Schicksal erleiden würde wie das Dritte Reich». Der Weg für die Ukraine sei der «Zusammenbruch». Aber der Zusammenbruch
könne den Weg für «ein offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok» bereiten…

Darauf können wir also das Glas heben: Ein offenes Eurasien unter der Fuchtel Moskaus! Die «Entnazifizierung» Europas, alle Nicht-Moskautreuen in Umerziehungslagern. Oh du schöne neue Welt.

Michael Buchser, Dr. iur., LL.M, ist Dozent für Wirtschaftsrecht an der ZHAW, Winterthur/Schweiz, und Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen.

 

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